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Von unten herab – die Objekte der Berichterstattung und das gestörte Verhältnis von Kultur, Kritik und Journalismus
in Beruf ohne (Aus-)Bildung
Andy Kaltenbrunner (Hg.), Czernin 2001

Am Anfang war es Leidenschaft. Prall und schamlos quoll sie aus den Spalten, die meinem ersten Spielfilm Muttertag in den heimischen Printmedien gewidmet wurden. Eine breite Phalanx von Kritikern kritisierte nicht, sie vernichtete derart einhellig und hingebungsvoll unflätig, dass der debütierende Nobody auf eine intensive, befruchtende Beziehung zur Creme der schreibenden Cineasten zu hoffen wagte.

Seither sind sieben Jahre vergangen, und der eitle Traum hat sich nicht erfüllt. Zwar verlieh der Herausgeber der auflagenstärksten Tageszeitung einer von mir inszenierten Folge der TV-Serie Kaisermühlenblues schriftlich das Prädikat „zum Speiben“, aber selbst diese hohe Ehre kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass insgesamt die großen Gefühle der Rezensenten für mein Schaffen erkaltet sind. Ich bin für sie sehr schnell vom „ungelenken Quereinsteiger“, dem man gnädig das „Weiterüben“ empfahl, zum „Routinier“, zum „Habitué“ verblasst, dessen Regiearbeiten ungeachtet ihrer Vielfalt lustlos mit Stereotypen abqualifiziert werden.

Und? Hat mich das wirklich zu kümmern? Genügt nicht das große Glück, dass meine Filme in der Gunst des österreichischen Kino- und Fernsehpublikums bislang stets Spitzenränge erreicht haben? Reicht es nicht, dass so viele zu Recht berühmte Autoren, Schauspieler und andere Filmschaffende öfter als einmal mit mir arbeiten?

Selbstverständlich gibt es im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken nichts Wichtigeres, als sie dort zum Wirken zu bringen, wo jede massenmedial vermittelte Botschaft per definitionem eintreffen sollte – bei möglichst vielen Menschen. Nichts kann für die Schöpfer/Sender befriedigender sein, als wenn dies gelingt. Und natürlich ist es ein wertvolles Privileg, seinen Beruf im Kreise der Besten ausüben, seine Berufung unter gleichermaßen Begeisterten ausleben zu können. Dennoch scheint es mir gerade vor dem Hintergrund veränderter staatspolitischer Prämissen zunehmend unerlässlich, sich nicht nur mit deren möglichen Konsequenzen für das Kulturschaffen, sondern auch mit Aspekten des begleitenden Kulturjournalismus zu beschäftigen.

Um einem bequemen Missverständnis vorzubeugen: es kann dabei keinesfalls um das Öffentlichmachen persönlicher Wehleidigkeiten und das kindisch kontraproduktive Austragen von Grabenkämpfen gehen. Es ist mir weder Trost noch Entmutigung, dass meine Berufskollegen – wie die meisten Kreativen aller Sparten – von der Kritik, wenn überhaupt, dann oft ebenso von unten herab behandelt werden wie ich. Es wäre wohl auch kurzsichtig, nur eine bessere, vielleicht sogar menschenachtende Auseinandersetzung mit unseren Taten zu verlangen. Ich verlange von der Kritik nicht mehr und nicht weniger, als dass sie – wie es Karlheinz Deschner treffend formuliert – „nicht gehen lehren, aber selbst gehen können sollte“.
Gegenwärtig wird jedoch fast ausschließlich in austrophober Mieselsüchtigkeit nachgehinkt und damit die Volksseuche „kollektiver Schwächeanfall“ leider auch auf die nachkommenden Generationen von Künstlern, Kritikern, Kulturpolitikern und Konsumenten übertragen. Ich stütze diese besorgte Diagnose vor allem auf die folgenden Beobachtungen:

Der österreichische Kulturjournalismus pflegt, sofern er sich überhaupt explizit darauf einlässt, dem gerade opportunen Erkenntnisinteresse untergeordnete Kunstbegriffe, die meist gleich reaktionär und elitistisch wie unsinnlich und überholt wirken. Es fehlt nahezu völlig die Auseinandersetzung mit Gedanken, die über die durchaus wertvollen, aber spätestens von der elektronischen Revolution relativierten Beobachtungen der Frankfurter Schule und ihrer zahlreichen Epigonen hinausreichen. Davor hat Susan Sontag schon früh gewarnt:
„In einer Kultur, deren bereits klassisches Dilemma die Hypertrophie des Intellekts auf Kosten der Energie und der sensuellen Begabung ist, ist Interpretation die Rache des Intellekts an der Kunst. Mehr noch. Sie ist die Rache des Intellekts an der Welt. Interpretieren heißt die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwelt der 'Bedeutungen' zu errichten ... Die Welt, unsere Welt, ist leer und verarmt genug. Weg mit all ihren Duplikaten, bis wir wieder unmittelbarer erfassen, was wir haben.“

Der österreichische Kulturjournalismus hat – wie der deutschsprachige im Allgemeinen – seine liebe Not mit allem, was er zumeist derogierend als „Unterhaltung“ bezeichnet. Die beiden Haupterreger dieses Leidens sind bekannt: unverdaute Brocken des klassisch bürgerlichen Bildungsideals und/oder chronische Schuldreflexe nach radikalchristlicher Erziehung. Daraus nährt sich eine explosive Gefühlsmischung von Überheblichkeit, Geringschätzung, Unverständnis und Angst. In deren Dunstkreis gerät selbst ein luzider Kopf wie Alexander Horwath, wenn er unter Berufung auf die ehernen Thesen von Adorno/Horkheimer zum „schlechten Lachen“ viele unschuldige Kinder mit dem „Stahlbad des Fun“ ausschüttet:
“Mit ... dem Boom der österreichischen Comedy- und Spaßkultur sind in Österreich Tonlagen und Sprechweisen dominant geworden, die – direkt oder indirekt – jeglichen Ernst und Differenzierungswillen im Umgang mit der Gesellschaft als überholt denunzieren. Ihr grober Sarkasmus, ihr ressentimentgeladener 'Schmäh' erheischt das glucksende Einverständnis mit Lesern, Zuschauern, Wählern, die zur abstrakten Beifallsquote erstarrt sind. Wählern, die sich nicht mehr als politische Subjekte, sondern als reine Konsumenten verstehen sollen; die das politische Geschehen nicht als lebensrelevant und interessegeleitet wahrnehmen, sondern als Teil der fröhlichen Unterhaltungskultur.“
Dieser symptomatisch ungenaue Rundumschlag trifft neben durchaus bedauernswerten Schandtaten auch Werke, für die das Gesagte in keiner Weise stimmt. So kann man zum Beispiel den ORF-Serien MA 2412 und Kaisermühlenblues mit entsprechender Misanthropie zwar den durchschlagenden Lacherfolg beim Publikum ankreiden, wohl aber kaum unterstellen, dass sie nicht vehement gesellschaftskritisch, subversiv oder anarchisch seien.

„Es gibt eine Form des Snobismus, welche zwar die Unterhaltung der Vergangenheit, aber nur das Aufklärerische der Gegenwart akzeptieren kann,“ diagnostizierte der weise Raymond Chandler schon vor Jahrzehnten und spricht damit ein weiteres Übel der intellektuellen Kunstrezeption an: selbst den profiliertesten Allroundern dieser Welt gelingt es –  vor allem hier zu Lande – kaum, der indolenten Punzierung als „E“ oder „U“ zu entgehen. Ich selbst habe mich als Guerillero längst darauf eingestellt, dass der Kampf gegen das lustfeindliche Auseinanderinterpretieren ein ebenso lebenslanger wie siegloser sein muss. Wie uns Umberto Eco in „Der Name der Rose“ verrät, ist die letzte Kopie von Aristoteles' Buch der Komödie bereits im 14. Jahrhundert verbrannt. Schade. Alle, die sich seither an die höchste Kunst gewagt haben, hätten es mit dieser Waffe leichter gehabt. Vor allem gegen die Kritik.

Der österreichische Kulturjournalismus sieht – wie auch aus dem oben Gesagten hervorgeht – in großer Breitenwirkung tendenziell ein Merkmal minderer Qualität. Man unterstellt jenen Kunstschaffenden, die das ohnehin seltene Glück hoher Wahrnehmung genießen, a priori Vorlieben fürs Klischee und einen Hang zur Anbiederung an den Geschmack des Publikums.
Diese Sichtweise findet sich in fast allen Rezensionen zu Produkten der Populärkultur (schon das Wort hat etwas Pleonastisches) und weist unter anderem auf mangelnde Reflexion des Begriffs „Klischee“ hin. Wie komplex und treffend muss etwas sein, um überhaupt dazu zu taugen? Bedeutet „Kunst schaffen“ nicht auch ganz stark das sensible bis virtuose Hantieren mit den Versatzstücken der Geistes- und Kulturgeschichte? Wie oft wird „Klischee“ gesagt und dabei „Ritual“ nicht erkannt? Berechtigte Fragen, zu denen es, wenn schon nicht Antworten, so doch wenigstens ernsthafte Diskussionen geben sollte.

Und was den – notorisch als schlecht beurteilten – „Geschmack der Masse“ angeht: schon allein der systemimmanente Zwang zu Abwechslung und Vielfalt hindert die Konsumindustrie daran, einen solchen dauerhaft und damit kontrollierbar zu etablieren. Zu steuern ist nur der Konsum im Allgemeinen, nicht aber der individuelle Prozess der Selektion. Filmkritiker wissen, dass das Herbeischreiben von Kassenschlagern ebenso wenig gelingt wie das Wegschreiben. Filmemacher haben da aussichtsreichere Perspektiven. Sie wissen, dass das Planen von Kassenschlagern so gut wie unmöglich ist, das Planen eines Flops aber ausnahmslos zum entsprechenden Erfolg führt.
Das macht auch das „Anbiedern“ so schwierig. Als Indiz dafür seien die mit immer verzweifelterem Aufwand betriebenen Bewerbungskampagnen aller Art genannt, die viel öfter amüsieren oder verärgern, als sie im kapitalistischen Sinne effizient sind. Und selbst wenn es so etwas wie den schlechten Geschmack der Masse gäbe, wäre mit Marcel Duchamps' Weisheit entgegenzuhalten: „Der größte Feind der Kunst ist der gute Geschmack.“

Der österreichische Kulturjournalismus kennt seinen Stellenwert für die Kulturpolitik und verhält sich entsprechend. Allerdings verwendet er seinen nicht hoch genug einzuschätzenden Einfluss auf Entscheidungsträger in Staat und Wirtschaft viel eher zur mehr oder weniger verdeckten Durchsetzung der privaten Visionen seiner Protagonisten als zur Initiierung eines umfassenden Dialogs, der auch die Kreativen einbeziehen müsste.
Damit wird einem eigentlich höfischen Sozialprinzip gehuldigt, das dem heimischen Demokratieverständnis nur in der Theorie zu widersprechen scheint. Gäste aus dem Ausland neigen demnach mitunter dazu, unseren Kulturbetrieb als emsiges Treiben von Gönnern, Günstlingen und Gauklern zu sehen, die unter gnädiger Zulassung des Pöbels Spiele veranstalten. Eine zwar unverschämt verkürzte, aber nachvollziehbare Sicht auf das Leben in einem Reizklima von kaltem Lob und heißem Tadel: einige (vor allem Künstler) versuchen, durch das Einnehmen verschiedenster Demutshaltungen den Marktwert ihrer Haut zu heben, und andere (vor allem Kritiker) versuchen, mit bösen Spielchen die eigene, kleine Macht zu erhalten.

Könnte das vielleicht eine Erklärung für die häufig des Titels „Rezension“ unwürdigen Ausflüsse sein (ein Beispiel: „Das Beste, was sich über das neue Kabarettprogramm von X sagen lässt, ist, dass Y keinen Film daraus machen kann.“)? Könnte das begründen, warum österreichische Künstler so häufig von Journalisten und Politikern in einer kritikfreien Form beschimpft werden, die Journalisten und Politiker im Umgang miteinander niemals anwenden würden? Stammt am Ende daher das seltsame „von unten herab“?

Beobachtungen aus kritischer Distanz sollten es jedenfalls möglich machen, im unübersichtlichen Terrain der österreichischen Gegenwartskunst neue Wege gangbar zu machen – und das, mit allem Nachdruck, für alle. Einander auf demselben Niveau zu begegnen, ist letztlich auch weniger anstrengend als andauernd die Frechen am Gipfelsturm und die Feigen am Tunnelbau hindern zu müssen. Folgende Anregungen widme ich abschließend den Pfadfindern aller Lager (daher natürlich auch mir) fürs Stammbuch:

/ Zweckallianzen schließen. In einem Land, wo die Kulturjournalisten ebenso von Förderungen der öffentlichen Hand abhängig sind wie die Kulturschaffenden, wo die Politik unter der Flagge des Sparens auf klarem Restriktionskurs gegen die Kunst steuert, sind die unmittelbar und mittelbar Betroffenen aufgerufen, sich in der Sache zu verbünden.

/ Den skizzierten Fehlentwicklungen an der Wurzel begegnen – an jenen sensiblen Stellen, wo der Nachwuchs ohne Trimmschere so gestärkt werden muss, dass er reelle Chancen hat, dem rauen Wind der Wirklichkeit zu trotzen. Immerhin leben wir in einem Sozialsystem, das nichts so unwillig hinnimmt wie den Erfolg des Einzelnen. Wer hier die kühne Berufsabsicht hat, Kultur zu schaffen, sie zu dokumentieren oder zu kritisieren, bürdet sich nicht nur ethische Pflichten auf, sondern hat wohl auch das wertvolle Recht auf eine entsprechende Ausbildung.

/ Mehr miteinander reden, streiten, daraus lernen. Das ist nicht sozialromantisch gemeint und will auch keine falschen Solidaritäten beschwören – aber noch immer ist das im Diskurs gestärkte Bewusstsein die wirksamste Waffe gegen die Gelüste der Obrigkeit.

/ Genauer wissen, worüber man redet, streitet, was man lernen sollte. Jedes Wort, das man in die Diskussion wirft, ist nur soviel wert, wie man selbst damit verbindet. Verschiedenartige Gedanken zu Kunst, Kultur und Kritik aufsaugen – nicht nur die des Chefredakteurs, nicht nur die Zitatensammlung aus der Perlen-Reihe oder zwei Vorlesungen am Institut für Theaterwissenschaft. Keinen „-ismus“ mehr erfinden. Schubladen zumachen. Susan Sontag lesen.

/ Leibesübungen betreiben. Für Kritiker: Nur wer sich über die Gürtellinie erhebt, findet neue Perspektiven. Es wird dann auch leichter, über jemanden den Stab zu brechen. Für Künstler: Aufrecht durchs Leben gehen, um die Wirbelsäule zu stärken. Das ist lebenswichtig, denn die Kannibalen bevorzugen bekanntlich Menschen ohne Rückgrat.