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in Wien – eine Stadt wie keine andere
echomedia 2024

„Wiener Schmäh“ hat als Begriff etwas ähnlich Pleonastisches wie „Jeanshosen“ oder „Haarfrisur“. Selbst wenn ich der restlichen Weltbevölkerung in geduldiger Güte die prinzipielle Schmähfähigkeit nicht abspreche, ist dennoch festzuhalten, dass dieses komplexe Phänomen der menschlichen Kommunikation einen festen Wohnsitz hat – eben in der Stadt Wien, die ich vor allem deshalb lieben gelernt habe.
 
Berichte besagen, ich sei schon im zarten Alter von sieben Tagen erstmals mit dem Wiener Schmäh konfrontiert worden. Bei der ersten Besichtigung durch meine deutlich älteren, einigermaßen enttäuschten Geschwister…
Schwester: „Du hast uns an Schmäh derzählt, Papa.“ Bruder: „Der is ja gar net so schiach.“
 
Die Worte meiner Schwester belegen, dass man Schmäh „erzählen“ kann – als mehr oder weniger hinterfotzig vorgebrachte Unwahrheit.
Die Diagnose meines Bruders lässt hingegen erahnen, dass der Wiener Schmäh in seiner Gesprächsanwendung primär „geführt“ wird – was ihn vom Witz unterscheidet, der nur erzählt werden kann. Gute Witze entstehen allerdings häufig als Kollateralbenefit von gelungener Schmähführung. Jedenfalls liegt dieser eine sophistizierte Denkweise zugrunde, welcher man sich nur mittels intensiver Feldforschung und täglichem Training nähern kann.
 
Dazu hatte ich schon früh Gelegenheit. Ich wuchs in den sechziger Jahren am gürtelnahen Rand von Favoriten auf, zwischen durchaus schmähkundigen Verkäuferinnen, Kellnerinnen, Kleinkriminellen, Lagerarbeitern und Eisenbahnern – anstelle des mondänen Sonnwendviertels stand dort nämlich noch ein von Bombenruinen durchsetzter Frachtenbahnhof.
 
Als 10jähriger landete ich dann auf der Wieden, im BRG 4. Seinerzeit war dieses Realgymnasium eine Hochburg des neuen, progressiven Wiener Schmähs – zum Lehrkörper gehörten der sarkastische Lyriker Ernst Jandl, der Gruselroman-Übersetzer Friedrich Polakovics und Stefan Weber, Chef der ikonischen Underground-Band „Drahdiwaberl“. Das hinterließ bei uns Schülerinnen und Schülern (darunter auch Andreas Vitásek und Günter „Gunkl“ Paal) prägende Eindrücke.
 
Schon bei ersten, zaghaften Ausflügen ins Nachtleben begegnete ich der legendären Barfrau Marianne Kohn und der „Jazz-Gitti“, zwei Meisterinnen des Schmähführens. Im Café „Alt-Wien“ konnte ich manchmal den Tiraden der Lichtgestalt Helmut Qualtinger lauschen.
Zudem bot mein späterer Beruf als Autor und Regisseur von Anfang an üppige Chancen zum Studium der Materie – in der engen Zusammenarbeit mit Eva Billisich, Alfred Dorfer, Roland Düringer, Andrea Händler und Ernst Hinterberger.
 
Gemessen an der Qualität meiner Ausbildung sind die eigenen Beiträge zum Wiener Schmäh überschaubar geblieben. Aber ich habe ungebrochene Freude daran, die Perlen der anderen zu sammeln, zu sortieren und aneinander zu fädeln. Ich bewege mich ehrfürchtig im Reich einer hohen, genuin demokratischen Kunst, die keinerlei Zugangsbeschränkung kennt – im Reich des Wiener Schmähs, der ein erfülltes Leben überhaupt erst möglich macht.
 
Wo sonst wird die Anerkennung von Leistung so zurückhaltend ausgedrückt wie in einem knappen „allerweil“? Oder, etwas offensiver, mit „irgendwas muss er ja können“?
 
Wo sonst wird ein vernichtendes Urteil derart elegant gefällt wie von Herbert Prohaska – „Wenn man’s positiv sehen will, könnt man sagen, wir haben a Pech g’habt“?
 
Wo sonst liegt, frei nach Anton Kuh, der Reiz eines Wortwechsels im Widerspruch zwischen der Gemütlichkeit der Sprache und der Ungemütlichkeit des Inhalts?
 
Wo sonst geht es darum, ironische Distanz im Gespräch so zu vermitteln, dass das Gegenüber einen für charmant oder für zumindest freundlich hält?

Echte Wienerinnen und Wiener sind niemals freundlich. Sie sind bestenfalls höflich. Wird die harte Schale dieser Höflichkeit entfernt, findet sich darunter kein weicher Kern – nur der nicht aufgegangene Samen des Anarchischen.
 
Der Wiener Schmäh ist eine bemerkenswerte Art der Daseinsbewältigung. Er macht Wien zum idealen Biotop für die uneigennützige Intrige und die aggressive Unterwürfigkeit, beides oft gepaart mit vorauseilendem Selbstmitleid…
Liegt nämlich die berüchtigte Bananenschale auf dem Trottoir, wissen Wienerinnen und Wiener, schon aus der Ferne, eines mit Sicherheit – „Ui, da wird's uns wieder aufhauen.“
Ich lebe sehr gern in dieser Stadt.