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in Quasi ein Genie 
Ausstellungskatalog, Zsolnay 2003 

Herr Teller war klein, gepflegt, stets im tadellosen dunklen Dreiteiler, Bruder eines berühmten Physikers und – sonst wäre dies keine Wiener Geschichte – der Doyen der Rosenverkäufer im eigentümlichen Nachtleben der Stadt. In Ausübung seines Berufes betrat Herr Teller nach Mitternacht das Café „Alt Wien“, wurde dort von einigen älteren Gästen, darunter Herr Qualtinger, freudig begrüßt und zum Trinken animiert. Der Alkohol schien den zarten Mann aber derart zu schwächen, dass er vorsichtig auf den Billardtisch gebettet wurde, wo er bald einschlief.
Qualtinger arrangierte kunstvoll die Rosen um ihren sanft ruhenden Verkäufer. Er schuf mit wenigen Handgriffen das perfekte Bild einer Aufbahrung erster Klasse, entlockte den Umstehenden ein paar Takte von „Es ist ein Ros' entsprungen“ und vollendete die Aktion mit einer virtuos improvisierten Abschiedsrede.

Ich war damals, Anfang der achtziger Jahre, als jugendlicher Zaungast von solchen Erlebnissen fasziniert. Und ich war von Sprache, Kino, meinem Dasein als Rockmusikant und – aus dieser Dreifaltigkeit resultierend – von der Kunst begeistert, Worte, Bilder und Klänge zu schonungslos wirksamen Sittengemälden zu verbrämen.

Helmut Qualtinger beherrschte diese Kunst so sehr wie sie ihn. Schon allein deshalb ist alles, was er geschrieben, gesungen und gespielt hat, zeitlos wertvoll. Sein Erbe ist richtungweisend für alle, die ihre geistige Heimat in jenem Auffanglager haben, wohin alles deportiert wird, was sich nicht eindeutig als E oder U, als „Ernst“ oder „Unterhaltung“ punzieren lässt. Der Punzierhammer wird von den Hütern einer beweislos behaupteten „Hochkultur“ geführt – meist eine Allianz aus steiflippigen Kritikern, bornierten Kleingeistern und anderen Türhütern des Bildungsbürgertums. Sie haben Qualtinger sein Leben lang zu schaffen gemacht. Er hat dennoch mit der Kraft des Könners eine Beobachtung von Salvador Dali bestätigt: In der Kunst verhält es sich genau umgekehrt wie beim Fußball – die schönsten Treffer werden aus dem Abseits erzielt.

Qualtinger traf aus dieser Position oft und genau. Kein Wunder, er kannte ja die Spielregeln besser als die Schiedsrichter. Er hat sich und seiner Umwelt die Regelwerke der Gesellschaft und der Kunst stets gnadenlos bewusst gemacht. Er galt auch unter Berühmten und/oder Profilierten als Ausnahmetalent. Die Kollegen kritisierten manchmal seinen mangelnden Teamgeist, schätzten aber, wie das Publikum, seine Vielseitigkeit.
Qualtinger war einem Libero vergleichbar, der sich selbst kühne Passbälle an die Flanken legt. In der Mitte brach er selten durch; er fühlte wohl, dass seine Klingen für frontale Attacken gegen den Abwehrblock der Hochkultur zu fein waren. Jedenfalls schielte er bei der Wahl der Waffen nicht danach, ob sie seine eigene Kunst „klein“ oder „groß“ machen würden. Darin liegt die Vorbildwirkung des Helmut Qualtinger für alle folgenden Generationen von Kleinkünstlern.

Man mag darüber diskutieren, ob es „Großkünstler“ überhaupt gibt und ob sie per definitionem Regeln und Waffenwahl zu ignorieren haben. Kleinkünstler hingegen treten, einem Naturgesetz des Kulturbetriebs entsprechend, auf Kleinkunstbühnen in Erscheinung. Das lässt vermuten, dass dieses geographische Faktum – häufig an den Haaren – zur pejorativen Beurteilung der Qualität des dort Gebotenen herbeigezogen wird.
Der dabei gern verwendete Begriff „Kabarett“ würde in seiner ursprünglichen Bedeutung – „drehbare, mit kleinen Fächern versehene Platte für Speisen" – wenigstens an das wertvolle Kriterium der Vielseitigkeit erinnern. In der Praxis dient seine Paarung mit dem Attribut „lustig“ der Vermarktung. Die Verwendung des Wortes „Kabarett“ in der Kritik will, heute wie zu Lebzeiten Qualtingers, selten mehr als Kunst klein machen.

So werden zum Beispiel als Film- und Fernsehschauspieler über die Landesgrenzen hinaus geschätzte heimische Künstler von den Medien unbeirrt und ausschließlich als „Kabarettisten“ bezeichnet – auch wenn ihre Live-Auftritte in Wirklichkeit Parforcetouren durch die nur mehr selten bereisten Weiten des Volksschauspiels sind und mit „Kabarett“ nur manche Spielorte gemein haben. Die Spielfilme, in denen neben zahlreichen Unverdächtigen solche Akteure mit Nahverhältnis zum Kleinkunstmilieu mitwirken, landen bei den Gralswächtern der Großkunst zuverlässig in der untersten Genreschublade mit der sinnfreien Aufschrift „Kabarettfilm“.

Mit diesem Unwort als Begründung lehnten auch die Programmverantwortlichen des Landes Anfang der neunziger Jahre meinen Plan ab, Sketches und Monologe aus Qualtingers Feder zu einem Wiener Sittenbild in Form eines Fernsehfilms zu verweben. Ich hatte bei einem Besuch im Thomas-Sessler-Verlag ein Regal entdeckt, worauf entsprechende Manuskripte bündelweise ihrer Entdeckung für den Film harrten. Deren Bewacherin, Maria Teuchmann, war zum Glück von der Idee derart angetan, dass ich gemeinsam mit Alfred Dorfer einen weiteren, diesmal von Erfolg gekrönten Anlauf zur Verwirklichung unternehmen konnte.
Wir arbeiteten an die hundert Texte durch, um daraus ein zeitloses, von der unverwechselbaren Melange aus Moral, Melancholie und Sarkasmus gezeichnetes Bild der Stadt – eben „Qualtingers Wien“ – zu montieren.

Was jeden Dialogschreiber, Drehbuchautor und andere Kleinkünstler an diesen Texten sofort begeistern muss, ist ihre präzise Knappheit. Qualtinger brauchte oft nur einen Satz pro Person, um deren Wesen und die aktuelle Situation darzustellen. Als Beispiel die Eröffnung von „Zaungäste“:
Er (wuzelt sich eine Zigarette): Stört Sie das?
Sie: Mein Mann hat das auch immer gemacht.

Qualtinger schaffte es auch mit wenigen Worten, komplexe bis absurde Lebensphilosophien zusammenzufassen. Aus „Familie im Herbst“:
Herr Gustl: Wieviel Menschen gehen in an Leichenwagen?
Schwester: In Amerika noch viel mehr.
Irmgard: Amerika hat ganz andere Maßstäbe.
Herr Pitsch: Wenn man die Zeitung liest, geht's ja ganz schön zu in der Welt ...
Walter: Ich möcht keine Kinder kriegen.

Was lernen wir daraus? Was sagt uns, den Gegenwärtigen, das Phänomen Qualtinger? Präzise in der Menschenbeobachtung sei der Künstler, gründlich in der Untersuchung gesellschaftlicher Zusammenhänge auf tumorartige Wucherungen, furchtlos im Angesicht der Tempelhüter der Hochkultur, uneitel in der Wahl seiner Waffen und vor allem scharfsinnig und vielseitig. Diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden, ist zwar um nichts leichter, aber naturgemäß anders geworden.

Das Kulturschaffen ist heute – zumindest physisch – viel einfacher zugänglich. Die anhaltende Vermehrung, die Öffnung und die noch stärkere Konsumorientierung der Medien haben dies bewirkt. Vor gar nicht so langer Zeit musste ein Musiker, Schauspieler, Autor oder Kabarettist mit Recht und Mühe um die Ankündigung, Öffentlichkeit und produktmäßige Verbreitung seines Tuns kämpfen.
Nun gelingt dies deutlich flotter und vielfältiger, allerdings stellen sich dabei neue Fallen. Sogar halbhelle Sterne erleben einen kometenhaften, von Verwertungsindustrien betriebenen Aufstieg in unbekannte Dimensionen. Sie ruhen oft bereits unsanft in der Bedeutungslosigkeit, ehe die aktuelle CD, DVD und der biographische Fotoband ausgeliefert sind. Die Fan-Website ist noch nicht freigeschaltet, die Home-Story noch nicht gedruckt, der erste Talkshow-Auftritt noch nicht gesendet – Underdogs im Overkill. „So ein Pech, wir haben doch alles versucht,“ lautet der Autopsiebericht des Managements. Schade nur, dass zuweilen wahre Talente auf die gleiche Art verheizt werden.

Qualtinger hatte zweifellos Gelegenheit, seinen Charakter, seine Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit einem schwerfälligen Kulturbetrieb zu festigen und den richtigen Zeitpunkt für seine Taten selbst erahnen zu dürfen. Trotzdem war seine Epoche mit Sicherheit nicht goldener als das begleitend (er-)schlagende Wienerherz. 

Erfolgsrezepte? Oder wenigstens Lebenshilfe-Tipps für angehende („Klein“-)Künstler? Es beruhigt mich, dass ich keine zu kennen glaube. „Per aspera ad astra“ scheint mir noch immer ein taugliches Lebensmotto zu sein, speziell für alle Gaukler mit dem Drang nach Ruhm und Ehre.
Entrüstung? Begeistert mich trotz ihrer Verständlichkeit im Falle des heimischen Kulturverständnisses nicht, weil das Wort, entgegen seiner missverständlichen Verwendung, eng mit „Abrüstung“ verwandt ist – und ich bin der festen Überzeugung, dass man ein militanter Philanthrop sein kann (muss?). Vielleicht habe ich mich deshalb schon als Kind, beim zigmaligen Abhören der elterlichen „Travnicek“-Schallplatten, zu dem Dicken mit der sanft grausamen Stimme hingezogen gefühlt... Genug. Nostalgie ist beim Thema „Verkannte und spät erkannte Genies“ noch weniger angebracht als sonst. Außerdem sieht man beim Nachtrauern nur Sargdeckel.