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Interview geführt von Herbert Lackner
erschienen im profil vom 10.08.2015

Keinen seiner Filme gesehen zu haben, ist praktisch unmöglich – der Regisseur Harald Sicheritz über Sozialdemokratie und FPÖ im Gemeindebau, intellektuellen Snobismus und den Reiz der Vorstadtweiber. 

Herr Sicheritz, eigentlich: Herr Doktor Sicheritz. Passt ein akademischer Titel zu einem Beruf wie dem Ihren? 
Nein. Er ist mir auch nicht wichtig. 

Sehr unösterreichisch. 
Im österreichischen Staatsdienst hat sich die Titelsucht ja vor allem deshalb bis heute gehalten, weil sie ein Mittel ist, jemanden ohne Geldaufwand zur Loyalität zu verpflichten. Das funktioniert mit Titeln perfekt: Professor, Amtsrat, Regierungsrat, Hofrat... 

Sie haben eine Dissertation zum Thema „Wie unterhält das Fernsehen?“ geschrieben. Wie unterhält das Fernsehen? 
Mich hat an dem Thema fasziniert, dass die Kommunikationswissenschaft, aber auch andere Wissenschaftszweige das Phänomen „Unterhaltung“ bis heute kaum untersucht haben. Ich bin von einer Bedürfnistheorie ausgegangen: Was und wie viel an Unterhaltung brauchen wir im Leben? 

Und das haben Sie in Ihrer praktischen Arbeit dann umgesetzt? 
Als ich das geschrieben habe, hatte ich noch keine Idee davon, je Regisseur zu werden. Ich war ein Rockmusiker mit politischer Bildung und Schreiblust. In der Wirklichkeit ist es bis heute so, dass Unterhaltung von ihren Machern leider oft zynisch behandelt wird, als etwas Minderwertiges. So sieht sie dann auch aus und kommt beim bildungsbürgerlichen Publikum genau so an – als minderwertig.

Sie stellen innerhalb relativ kurzer Zeit so völlig unterschiedliche Produkte her wie den anspruchsvollen Film Clara Immerwahr und Werbespots der lästigen Möbel-Familie Putz. Wie kann man den Schalter so schnell umlegen?
In den 35 oder 40 Sekunden, die man in der Werbung hat, um eine Geschichte zu erzählen, ist eine der besten Fingerübungen für meinen Beruf. 

Die Familie Putz wird aber weithin als Landplage empfunden. 
Ich mache diese Werbespots seit 2010 nicht mehr. Aber als das Unternehmen im Jahr 2000 mit der Kampagne begonnen hat, war es das viertgrößte Möbelhaus Österreichs. Bald darauf war es das zweitgrößte der Welt. Werbung funktioniert, weil sich das Publikum für etwas begeistern oder über etwas ärgern will. 

Das Sicheritz-Œuvre wirkt oft erst mit Zeitverzögerung. Ihr erster Film Muttertag hatte 1994 durchschnittlich viele Zuschauer und schlechte Kritiken. Heute ist er unbestritten Kult. Was passiert da? 
Kult kann man nicht erklären. Der Film ist einfach ungewöhnlich – fünf Leute spielen 29 Rollen. Muttertag ist irgendwann Teil des kollektiven Bewusstseins geworden. Ich treffe immer wieder Leute, die ganze Passagen auswendig können. 

Die Kritiker von damals werden dennoch ihre Meinung nicht ändern, dass der Film Mist ist.
Der von mir sehr geschätzte Autor Raymond Chandler hat einmal sinngemäß geschrieben: Es gibt einen intellektuellen Snobismus, der nur die Aufklärungsliteratur der Gegenwart und die Unterhaltungsliteratur der Vergangenheit anerkennt. Das kann man auch auf Muttertag anwenden. 

Hinterholz 8 ist bis heute der erfolgreichste österreichische Film. In diesem Fall machte wohl die eigene Betroffenheit den Erfolg aus. 
Das war wohl die kathartische Wirkung – dem Herbert Krcal geht’s noch beschissener als mir. Für Häuslbauer ist das offenbar sehr wichtig, weil in deren Ballungsräumen plötzlich die Kinos voll waren. Ich bin einmal hinter einem Ehepaar aus dem Kino gegangen. Er war sehr ernst. Sie hat ein bisschen geweint und gesagt: „Schau dir den Film noch einmal an! Du richtest uns auch so zugrunde mit dem verdammten Haus.“ 

Sie haben jedenfalls den Mut zum deftigen Schmäh. Den muss man sich erst einmal trauen. 
Wenn Sie sagen, den müsse man sich „trauen“, dann sagt das ja viel über den Stellenwert des Satirischen und Komischen aus. 

Jedenfalls zielen alle Ihre Filme und Serien auf möglichst breites Publikum ab: Kaisermühlenblues, MA 2412 – Die Staatsdiener, Bad Fucking...
Ich habe mir nie überlegt, wie viele Menschen sich das ansehen werden. 

Aber wenn Sie für das Fernsehen arbeiten, müssen Sie an die Quote denken.
Nicht bei der Arbeit! Wenn man nur nach der Quote schielt, sieht das Ergebnis aus wie deutsches Mainstream-Fernsehen – Lederhosen auf Mallorca. So etwas würde ich nie machen. Hinterholz 8 ist alles Mögliche, aber sicher keine seichte Komödie. Es ist ein bitterböser Film. 

Sie haben vor einigen Jahren in einem Interview über die „Gehässigkeit pragmatisierter Kritiker und selbst ernannter Eliten“ geklagt. Deren Kritik scheint Sie also schon zu treffen. 
Die Genannten sind der lange Arm des Bildungsbürgertums. Wäre dieses so organisiert wie die katholische Kirche, wären sie die Jesuiten. Ich lese Kritiken eigentlich nicht mehr, weil mir auch Wohlmeinende ohnehin erzählen, was wieder Schreckliches in der Zeitung gestanden hat. Wenn man lang genug dabei ist, darf einem das nichts mehr anhaben. 

Kann man das jetzt glauben? 
Ja. Ein Beispiel: Bei Vorstadtweiber haben die wunderbaren Darstellerinnen auf die erste Welle von negativer Kritik sehr betroffen reagiert. Ich habe allen gesagt, sie sollten das nicht so ernst nehmen. Und die Begeisterung des Publikums hat dann ohnehin alles wettgemacht. In Deutschland waren die Kritiken zu Vorstadtweiber am Beginn auch negativ. Im „Spiegel“ hat direkt nach Ende der ersten Staffel ein Autor gegen die Kritiken seiner Kolleginnen und Kollegen geschrieben, die Serie sei in Wahrheit eh großartig, ein absoluter Pluspunkt fürs deutsche Fernsehen. Das würde bei uns nie passieren. 

Viele Ihrer Serien und Filme spielen im Gemeindebau. Haben Sie selbst in einem Gemeindebau gewohnt? 
Ich bin im 10. Stock eines Favoritener Plattenbaus aufgewachsen, in einer der damals schlimmsten Gegenden des Bezirks, im Sonnwendviertel, direkt beim Frachtenbahnhof. Dort ist nachts auch manchmal geschossen worden. Für den kleinen Harald war das ein spannendes „Chicago“. 

Das ist heute ein aufstrebendes Grätzel neben dem neuen Hauptbahnhof. 
Dort ist nichts mehr, wie es einmal war. Nur der Bau, in dem ich meine ersten 19 Lebensjahre abgesessen habe, steht noch immer. Aber es ist nicht so, dass ich bei meiner Arbeit unbedingt immer wieder dorthin will. Muttertag spielt allerdings durchgehend in einem Gemeindebau. Als der Film Aufsehen erregte, hat mich Programmintendantin Zechner sogleich nach Kaisermühlen geschickt, um dort den Blues zu dirigieren.

In einem Film über den Gemeindebau müsste ein studierter Politikwissenschaftler wie Sie wohl darauf eingehen, dass dort die FPÖ immer stärker wird. Wie würden Sie das tun?
Man müsste darstellen, dass die Sozialdemokratie in jenen Jahren, als die großartigen Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit gebaut wurden, noch so etwas wie eine Glaubensgemeinschaft war, die einen inneren, moralischen Zusammenhalt hatte.

"Klassenbewusstsein" hat man das genannt. Aber so trennscharf lassen sich die Klassen heute nicht mehr definieren. 
Dennoch gibt es ein Bedürfnis nach einem weltanschaulichen Gebäude, das es nicht mehr gibt, weil die Öffentlichkeit entideologisiert wurde – auch von den Sozialdemokraten. Es ist alles beliebig geworden. 

Und deshalb gewinnt Strache? 
Er gibt die ganz einfachen Antworten. Aber die FPÖ ist nicht das Thema. Was die FPÖ tut, ist vorhersehbar. Entscheidend ist, was die anderen Parteien alles nicht machen, was sie unterlassen. 

Weil die politischen Repräsentanten schwächer sind als früher? 
Sicher auch das. Es gibt zudem heute viele Glücksritter in der Politik. Umso erfreulicher ist es, wenn ein Politiker oder eine Politikerin wirklich etwas verändern will. 

Wer, zum Beispiel? 
Von der parteilosen Familienministerin Karmasin, mit der ich unlängst gesprochen habe, habe ich diesen Eindruck. Sie muss gerade bemerken, wie mühsam und langwierig solche Veränderungsprozesse sind. Es dauert fünf oder sechs Jahre, bis heute Beschlossenes tatsächlich greift. 

Bundeskanzler Werner Faymann liegt in den Umfragen eher schlecht. Wird er unterschätzt? 
Grundsätzlich kann jemand, der so weit gekommen ist wie er, nicht so unfähig sein, wie er gern dargestellt wird. Aber auch Faymann kann dieses moralische Gebäude, von dem wir vorhin gesprochen haben, nicht überzeugend vermitteln. Dazu kommt das wachsende Desinteresse an Parteien im Allgemeinen. Ich selbst würde mich nie parteipolitisch engagieren. Mein Urgroßvater hingegen war 1888 am Hainfelder Gründungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. 

Für Ihre Generation der Politikstudenten war die Arbeiterklasse immer das fortschrittliche Subjekt der Geschichte. Jetzt wählen sie die FPÖ. Schmerzt das? 
Natürlich ist das schmerzhaft. Die Arbeiterklasse war ursprünglich nicht die Keimzelle des Fortschritts. Aber es war enorm wichtig und richtig, ihr dieses Gefühl zu geben, um dieser Klasse ein entsprechendes Bewusstsein ihrer selbst zu ermöglichen. Und das hat ja sehr viel Gutes bewirkt. 

In Österreich findet demnächst ein Elitenaustausch statt. Es gibt vielleicht einen neuen Wiener Bürgermeister und einen neuen Kanzler und sicher einen neuen Bundespräsidenten. Fallen Ihnen da Wunschkandidaten ein? 
Dafür fehlen mir die Hintergrundinformationen. Ich kann nur danach urteilen, ob infrage Kommende einen glaubhaften Eindruck bei mir hinterlassen. Und leider gibt es ja die große, charismatische Rednerpersönlichkeit nicht mehr. 

Sie hören nur schlechte Redner? 
Nein, nicht nur. Ich habe den Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner gut ohne Manuskript reden gehört. Ich habe den Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig ohne Manuskript gut über Architektur und ihre politische Bedeutung reden gehört. Aber insgesamt ist die politische Kultur in Österreich tragisch vertrocknet. 

Vor Ihrer Karriere als Regisseur waren Sie Bassist bei der Gruppe „Wiener Wunder“. Bassisten bleiben eher im Hintergrund. Der Regisseur steht ganz vorn. Gefällt Ihnen das besser? 
Der Bassist ist das unverzichtbare Rückgrat einer Band und fällt oft erst dann auf, wenn er nicht mitwirkt. Ähnlich ist die Aufgabe eines Regisseurs. Ich konnte meinen Gitarristen sagen, wann sie ein Solo spielen sollten und ob ich es passend oder virtuos fand. Das „Wie“ war absolut ihre Sache. Genauso erlebe ich es heute mit meinen Teams vor und hinter der Kamera. 

Gibt es Schauspieler oder Schauspielerinnen, mit denen Sie besonders gut können? 
Da gibt es sehr viele. Nach Kalenderjahren und Auftritten haben mich wohl Johannes Silberschneider, Wolfgang Böck, Nina Proll, Roland Düringer und Alfred Dorfer am längsten begleitet. Zum Erfolg tragen jedenfalls alle bei, nicht nur die Regie. Bei  Vorstadtweiber war schon die Titel- und Grundidee von Kathrin Zechner ein Volltreffer. Dann kamen die feinen Drehbücher von Uli Brée und gute Redaktionsarbeit. Aber die Umsetzung liegt beim tollen Ensemble – die können’s einfach. 

Das Internet verändert gerade die Berufswelt der Journalisten grundlegend. Wird das Unterhaltungsfernsehen verschont bleiben? 
Experten meinen, dass sich das Publikum kaum mehr zu einem vorgeschriebenen Zeitpunkt vor der Kiste versammelt, dass der Konsum flexibler und vielfältiger sein wird. Aber gerade bei Vorstadtweiber sieht man sehr schön, was passiert, wenn ein Fernsehereignis zu einem sozialen Ereignis wird. Dann versammeln sich die Leute immer noch zeitgerecht, weil sie am nächsten Tag am Arbeitsplatz darüber mitreden wollen. Das internationale Rezept des Fernsehens gegen das Internet ist derzeit die zuverlässige Regelmäßigkeit der Serie – und das durchaus erfolgreich. 

Gibt es einen Stoff, den Sie gerne umsetzen würden? 
Ich habe viele Themen, und zum Beispiel auch ein schwarzhumoriges Drehbuch über ein bizarres Ereignis zu Ende des Zweiten Weltkrieges geschrieben. Zur Verwirklichung suche ich aber noch Partner im Ausland. 

Fällt es Ihnen nicht leicht, Geld aufzutreiben? 
Nein, gar nicht. Es ist immer wieder schwierig, bei den Förderinstitutionen etwas durchzubringen. Aus Erfahrung und Erfolg erwachsen keinerlei Privilegien. Dort ist auch „junges Talent“ ein entscheidender Faktor. 

Und Sie zählen schon zu den Alten? 
Absolut. Unlängst wollte ich einem alten, gebrechlich wirkenden Mann über die Straße helfen und musste feststellen, dass der mit mir in der „Ohne Maulkorb“-Redaktion war. So weit ist es schon. Zum Glück fehlt mir dazu aber jegliche Selbstwahrnehmung.