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in Wollen wir wirklich 100 werden – über unsere mögliche Zukunft 
Kris Krenn, Orac 2021

Das ist eine Frage, die ich kaum beantworten kann. Ich müsste dazu wissen, wie es mir in den Jahren zwischen jetzt und 100 gesundheitlich ginge. Ich bin zwar schon ein paar voll fitten 100-jährigen Damen und Herren begegnet, würde mich aber nicht darauf verlassen, dass Ähnliches auf mich zuträfe.
Mein Körper, meine „Karosserie“, ist seit jeher wartungsintensiv und reparaturanfällig. Sie war auch bereits so schwer beschädigt, dass ich nur knapp überlebt habe. Das hat früh dazu geführt, dass für mich immer nur die Qualität des Daseins entscheidend war. Wenn man Spaß hat, wenn es Freude macht, wenn es erfüllt ist, dann ist es gut. Und genauso fühlt sich mein Leben an. Ich muss nicht nach vorn flüchten oder im Zorn zurückblicken. Ich halte mich für einen in seiner Gegenwart glücklichen Menschen. Ich vermute zudem, dass das Leben mit den Jahren immer beschwerlicher wird. Und „beschwerlich“ mochte ich nie. Daher zählt es auch nicht zu meinen Zielen, 100 Jahre alt zu werden.
 
„Gutes, erfülltes Leben“ ist ein relativer Begriff. Er bedeutet vermutlich – und auch hoffentlich – für jeden Menschen etwas anderes. In der ziemlich freien Welt, in der Österreicherinnen und Österreicher einstweilen noch leben, bekommt man Angebote, die man annehmen kann oder nicht. Die man ehrgeizig verfolgen kann – oder eben nicht. Wir bekommen Bildungsangebote, Berufsangebote und manchmal sogar Einladungen zum exklusiven Zusammenleben.
Als heute 62-jähriger Mensch mit einiger Erfahrung kann ich bestätigen, dass das wertvollste dieser Angebote das Bildungsangebot ist. Es ist sogar noch viel mehr. Etwas gelernt zu haben und weiterhin zu lernen, ist die einzig wirklich wirksame Waffe, über die wir verfügen können. So gesehen wird der Begriff vom guten, erfüllten Leben schon deutlich weniger relativ. Das Wesentliche, das ein brauchbarer Staat dazu beitragen kann und muss, ist ein funktionierendes Bildungssystem. Alle anderen Angebote sind dem Bildungsangebot nachgeordnet.
Schwarmintelligenz ist für die Gesellschaft garantiert wertvoller als Schwarmblödheit. Nur einem blöden Schwarm können Rechtspopulisten einreden, dass das Wichtigste ein umfassendes Sicherheitsangebot sei. Welch gefährlicher Unsinn. Wirklich sicher ist man nur in Gefängnissen. Trotzdem will dort kaum jemand hin.
 
Wir erreichen ein immer höheres durchschnittliches Lebensalter. Gleichzeitig haben wir die erste Pandemie seit 100 Jahren. Diese große Krise bietet auch eine große Chance – die aber leider nicht ausreichend wahrgenommen wird. Unser Staat könnte nämlich seine Systemträgerinnen und Systemträger endlich als solche wahrnehmen und sie entsprechend bezahlen. Jede Art von Pflege-, Lehr- und Ordnungspersonal müsste ab dem nächsten Monatsersten 30 Prozent mehr Geld bekommen. Das würde die Qualität unseres Lebens und auch die des Staatssystems schlagartig verbessern. Nicht zuletzt, weil sich sofort viel mehr Leute mit höherer Qualifikation und stärkerem sozialen Engagement für diese Jobs interessieren würden – was von vitalem Interesse ist. Zumindest für alle, die ernsthaft vorhaben, 100 Jahre alt zu werden.
 
Nur ein menschenwürdiges Leben kann ein gutes und erfülltes Leben sein. Ich habe den Verdacht, dass wir zunehmend den Wert elementarer Dinge vergessen, für die unsere Vorfahren hart gekämpft haben – für den Luxus der parlamentarischen Demokratie, zum Beispiel. Oder für ein Arbeitsrecht – etwas, das der digitale Kapitalismus gern und unwidersprochen ignoriert.
Gleichzeitig mit der Besinnung auf die großen Errungenschaften unserer Zivilisation müssen wir unser Gesellschaftssystem laufend beobachten, analysieren und verbessern.
 
Wie wir heute wissen, hat die Menschheit vor zirka 12.000 Jahren einen nicht mehr gutzumachenden Fehler begangen – sie ist sesshaft geworden und hat angefangen Ackerbau zu betreiben. Auf einmal waren die Leute ihre Freiheit los, sie waren plötzlich Knechte von Grund und Boden. Und sie haben sofort darüber zu streiten begonnen, wer was, wann, wie zu arbeiten hat. Seit damals ist Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft etwas Selbstverständliches. Wir definieren uns vor den anderen und auch vor uns selbst über irgendwelche Arbeit, die wir leisten und dafür Lohn bekommen. Arbeit bestimmt, was wir wert sind – in jeder Hinsicht. Erst langsam, mit der fortschreitenden Digitalisierung des Alltags, wird klar, dass die Begriffe „Arbeit“ und „Privatleben“ sowie unser Verhältnis dazu neu zu definieren sind.
 
Eine Frau, die heute 30 Jahre alt ist, hat gute Chancen, 100 zu werden. Sie hat auch gute Chancen, gesunde Kinder zu bekommen und großzuziehen. Aber es kann leicht sein, dass diese Frau mit ihrer Familie von einer Art „Mindestsicherung“ leben wird. Weil schlicht und einfach für sie keine Arbeit mehr vorgesehen ist. Weil sie ohne Lohnarbeit leben kann und das auch will. Ich glaube, dass wir uns von der klassischen Arbeitsmoral und dem klassischen Vorurteil über Faulheit verabschieden müssen.
Ich liebe die Definition von Kant – „Faulheit ist der Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit.“ Die zukünftigen 100-jährigen, die jetzt rund um uns heranwachsen, werden hoffentlich eine gute Bildung haben, aber möglicherweise die meiste Zeit ihres Lebens in Faulheit verbracht haben. Umgeben von fleißigen künstlichen Intelligenzen und frei von dem Druck, der heute noch mit dem Reizwort „beruflicher Erfolg“ ausgeübt wird. Eine sehr schöne Perspektive. Viel besser als die in einem Hamsterrad. Dieses sieht nämlich, von innen betrachtet, einer Karriereleiter täuschend ähnlich.

Auf die vielen Roboter und ihre Algorithmen wird in Zukunft jemand aufpassen müssen – noch ein Grund, warum ein kluges System seine Erhalterinnen und Erhalter sehr gut behandeln sollte. Ansonsten kann es sein, dass die Maschinen irgendwann auf uns aufpassen und wir nichts mehr mitzureden haben.
 
Ich weiß nicht, wie 2058 (dann wäre ich 100 Jahre alt) Spielfilme aussehen werden. Ich denke, dass es sie geben wird, in welchem Format auch immer. Und ich bin ziemlich sicher, dass die Filme den Menschen Geschichten über Menschen erzählen werden – egal, ob sie darin Fahrdienstleiterinnen, Färber oder Fabelwesen sind.
Wir alle brauchen Geschichten. Ohne Geschichten könnten wir unseren Alltag nie bewältigen. Ohne ihre Orientierungshilfe könnten wir die Tatsache, zwischen so vielen anderen Leben allein zu sein, nicht aushalten. Der Gedanke wäre uns viel zu groß.
 
Zu den großen Gedanken gehört auch die Frage, wie im fortgeschrittenen Alter mit dem Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben umzugehen ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat hier bereits Richtungweisendes beschlossen und die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei gestellt. Auch Österreich hat sich da zuletzt in die gute Richtung bewegt.
Ich halte das schon deshalb für entscheidend, weil es um unsere Würde geht. Und zu einem würdigen Leben gehört ein würdiges Lebensende. Und würdig kann nur das Selbstbestimmte sein. Als „Gemüse“ in einem teuren Intensivbett dahinzuvegetieren, ist definitiv unwürdig.
 
Zukunftsorientierte Staaten werden in ihrer Gesetzgebung auf die rasante Zunahme der 100-jährigen, der Pflegefälle, auf das allgemeine Bevölkerungswachstum reagieren müssen – und dann sind wir schnell bei staatlich verordneten Triagen und Tötungen, bei Euthanasie etc. Wir müssen daher die gesetzliche Verankerung der Selbstbestimmung über das eigene Leben beständig einfordern. Sonst kommt sie gar nicht mehr.

Ich wünsche mir, dass allen Menschen die Erkenntnis vermittelt wird, dass das Sammeln von Lebensjahren kein Bewerb ist. Dass es keine zu bewertende Leistung ist, wenn jemand sehr alt wird. Dass der Inhalt mehr zählt als die Form. Dass am Ende 50 lustige und erfüllte Jahre mehr zählen als 100, die man unter Schmerzen irgendwie hinter sich gebracht hat.